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Die Ausrottung der Bleiläuse

Die Ausrottung der Bleiläuse

von Klaus Pokatzky

Aktualisiert 29. März 1985  07:00 Uhr

Früher ist er gerne zur Arbeit gegangen, heute läßt sie ihn kalt

Von Klaus Pokatzky

Als Günter Lehmann siebzehn war, ist er zum Deutschen Turnfest nach München gefahren, im Fünfkampf errang er einige hübsche Erfolge, die sogar die Lokalzeitung lobend erwähnte. Zurück in Frankfurt, hielt er die Reise nach München in einem eigenen Buch fest: Photos von „deutschen und schwedischen Sportmädels“, Ansichtskarten von Karlsplatz und Rathaus, eine Eintrittskarte für den Tierpark Hellabrunn, die Wochennetzkarte für die Straßenbahn und dazwischen Texte über die Zugfahrt, das Schlafen in Turnhallen, Kneipenbesuche und Siegerehrungen. Selbst verfaßt und selbst gesetzt, Zeile für Zeile, Buchstabe für Buchstabe in feinsten Buchdrucklettern, gedruckt auf schönem starkem Papier. Nur das Binden übernahm die Mutter, eine gelernte Buchbinderin.

Das hat ihn fasziniert: spielerisch etwas entwerfen und dann akkurat ausführen, die Mischung aus bunter Kreativität und sauberster Ordnung. Deshalb ist Günter Lehmann Schriftsetzer geworden.

Heute, mit 44 Jahren, sitzt er vor einem Gerät, das oben aussieht wie ein Fernsehapparat und unten wie eine elektrische Schreibmaschine: „IBM Bildschirmsystem 3278“. Der erste Druck gilt der Taste „dat freig“, Datenfreigabe. Das läßt den Bildschirm unverzüglich aufleuchten, grüne Schrift auf schwarzem Hintergrund: „Das Redaktions-Online-System begrüßt Sie“.

Und damit Günter Lehmann und seine Chefs stets wissen, wie viele Stunden, Minuten und Sekunden der gelernte Schrift- und umgelernte Photosetzer am elektronischen Kollegen gesessen hat, tut der Bildschirm die exakte Uhrzeit kund: 18:42:51. Das Redaktions-Online-System begrüßt den Günter Lehmann nicht nur, es „verabschiedet sich“, nach getaner Arbeit, auch „von Ihnen“, maschinelle Zuwendung darf schon sein. Zu Anfang hat sich Günter Lehmann hin und wieder einen kleinen Gag erlaubt und dem Computer einen speziellen Adegruß eingegeben: „Lieber Herr Lehmann, das System verabschiedet sich von Ihnen und dankt für Ihre Arbeit. Ihr F. Nabholz.“

Franz Nabholz ist einer der drei Geschäftsführer des „Druck- und Verlagshauses Frankfurt am Main GmbH“, des Verlages der Frankfurter Rundschau. Und Günter Lehmann, verheiratet und eine erwachsene Tochter, „tut bei de Rundschau scho fast e Vierteljaahunnert schaffe“. Begonnen hat er dort, als die Setzer noch zu den bestbezahlten Facharbeitern gehörten, mit handwerklichem, ja fast künstlerischem Renommee. „Die Druckkunst macht die Werke der bildenden Kunst allen Menschen zugänglich“, schrieb der 15jährige Günter Lehmann in sein Berichtsheft für das erste Lehrjahr, in schönen, kleinen Schriftzügen, damit alles hübsch übersichtlich blieb, eben ein richtiges Layout: „Die ersten Drucker waren gelehrte Leute, und bis auf den heutigen Tag werden an den Nachwuchs des graphischen Gewerbes hohe geistige Anforderungen gestellt.“

Als Günter Lehmann sich vor vier Jahren zum Photosetzer umschulen ließ, wurde ihm erst ein Schreibmaschinenkurs abgefordert, dann mußte er drei Wochen lang täglich dreieinhalb Stunden am Vormittag die Techniken und Grundbegriffe von „IBM Bildschirmsystem 3278“ lernen. Zum System gehören, neben dem Schreibmaschinenfernseher, der Elektronenrechner, der alles speichert, was Günter Lehmann und seine Kollegen eintippen, und die Belichtungseinheit einen Stock tiefer. Dort werden die gerade gewünschten Texte aus dem Computer abgerufen und auf haltbaren Papierstreifen in jeder gewünschten Form ausgeworfen: ein-, zwei-, drei-, vierspaltig. In der Abteilung „Photosatz-Montage“, wo „Tod dem Photosatz“-Plakate an der Wand hängen, brauchen die gelernten Setzer und umgelernten Montierer das nun nur noch zur Seite zusammenzukleben. „Nur so’n paar Flatschen, dann ist die Seite zu“, sagt Günter Lehmann, „und so sieht’s auch aus.“

Realist, kein Romantiker

Tatsächlich hat die Frankfurter Rundschau ihr Gesicht geändert, seit sie kürzlich ganz auf Photosatz umgestellt wurde. Luftigere Schrifttypen prägen nun das Bild des Blattes, die Linien zwischen den Spalten sind weggefallen – leichter sieht sie nun aus und ohne den alten, gewohnten Charakter.

Günter Lehmann ist „Realist, Romantiker bin ich nicht“, darum hat er gleich seine Konsequenzen gezogen, wenn’s auch geschmerzt hat. „Der Photosatz kommt sowieso, und wenn du der erste bist, bist du mal drin im Metier.“ Zu verhindern war der Zug der Zeit nicht, aber die sozialen Folgen für die letzte Generation der Setzer abmildern konnte der im Rundschau-Verlag traditionell starke Betriebsrat schon: Niemand darf entlassen werden. Aber wie lange die Techniker noch verhindern können, daß Satz-Bildschirme in die Redaktionsräume gestellt und dort von den Journalisten oder Sekretärinnen bedient werden, steht in den Sternen.

Theoretisch könnte man mit dem System heute schon viel mehr machen, als die Rundschau wagt. Die Artikel brauchten gar nicht mehr zu einer Seite zusammengeklebt zu werden, den Umbruch könnte auch ein Redakteur vollelektronisch auf einem größeren Bildschirm erledigen – bei anderen Blättern geschieht dies auch. So sitzen Günter Lehmann und seine 75 Kollegen in der Abteilung „Texterfassung und -gestaltung“ sowie die 45 in der „Photosatz-Montage“ wie museale Relikte aus bleiernen Zeiten, auf deren Aussterben gewartet wird, in ihren sauberen, hellen teppichbelegten Großräumen. Früher klebte das Blei und der Dreck an ihren Händen und unter den Fingernägeln, trotz Bimsstein und Scheuerseife „hast du immer dreckige Finger gehabt, immer“.

Allerdings hat man auch mehr zusammen geschwätzt, getrunken, geraucht, Witze sind hin und her geflogen, und manchmal hat man noch „bis morgens um drei in der Kneipe gehockt“.

Auch heute stößt Günter Lehmann mal mit den Kollegen an, „dann geht jeder wieder an seinen Bildschirm und sitzt da für sich allein“.

Wabernde Bleidämpfe

Mit 20 Jahren kam er zur Rundschau. Er mußte sich entscheiden, ob er als Metteur in den Umbruch gehen oder eine zusätzliche Schulung zum Maschinensetzer absolvieren wollte. Die Maschinensetzer bekamen eine zwanzigprozentige Lohnzulage. Aber bei ihnen war es nicht so lustig und gesellig wie bei den Metteuren, die Arbeit nicht so kreativ und vor allem schrecklich laut. Sie saßen an einem klappernden, klirrenden! Ungetüm namens „Linotype“, das vor hundert Jahren der deutsche Auswanderer Ottmar Mergenthaler in Amerika erfunden hatte. Damit wurden die einzelnen Zeilen erst gesetzt und dann aus flüssigem Blei gegossen. Bleidämpfe waberten durch die Maschinensetzerei, man konnte kaum sein eigenes Wort verstehen, wenn an den Maschinen unentwegt neue Zeilen herunterfielen und sich auf den Schiffen zu Absätzen und ganzen Artikeln reihten.

Fast alle Photosatz-Kollegen von Günter Lehmann sind ehemalige Maschinensetzer, sie finden ihren heutigen Job weitaus ruhiger, sauberer und angenehmer. Die einstigen Metteure hingegen sitzen heute in der Montage und kleben. Günter Lehmann ist an seinem „IBM 3278“ die Ausnahme des Ex-Metteurs. Früher hat er bei der Rundschau Anzeigensatz gemacht, die Kunden beraten, welche Schrifttypen und Schriftgrößen sie wählen sollten, wo sie Platz lassen müßten und wie das ganze am schönsten aussieht. „Das war jedesmal wieder eine neue kleine Herausforderung“, und viele der von ihm entworfenen und selbst gebauten Anzeigen hat er heute noch, sauber und ordentlich aufgeklebt, in Aktenordnern. Daß er sich nach seiner Pensionierung einmal ein billiges kleines Satzgerät kauft und die Einladungskarten für seine Gartenfeste selber setzt, kann er sich aber nicht vorstellen. Solche Nostalgie ist nicht angesagt: „Lieber würd’ ich mir hundert Mark zusammenkratzen und in so ’ner kleinen Klitsche was drucken lassen.“ Aber Buchstaben, Matrizen, Matern, die alten Handwerkszeuge auch, mit denen er früher die Anzeigen zusammengesetzt hat, hat er aufgehoben, seinen Enkeln wird er schon noch demonstrieren können, was einmal ein Schriftsetzer war und womit der tagtäglich gearbeitet hat.

Eine Runde gefällig

Als er noch mit Ahle, Winkelhaken und Setzschiff handwerkte, ist er „wirklich gern“ zur Arbeit gegangen. Nicht, daß er „arbeitsgeil“ gewesen wäre, das möchte er doch betonen, aber „es hat eben Spaß gemacht“. Heute läßt ihn das kalt, „da weiß ich genau, was mich erwartet, da ist die Arbeit ein Muß, um Geld zu verdienen“. Eine richtige Krise hat er aber nie gehabt nach dem Abschied vom Blei. Wie gesagt, „ich bin Realist, Romantiker bin ich nicht“.

Günter Lehmann vermißt heute am meisten die „Kommunikation mit den Kollegen, auch mit den Redakteuren über aktuelle Tagesereignisse“. Der Gedankenaustausch oder mal ein Witz oder so, „das gehört doch alles dazu, hat alles aufgelockert und erst die Arbeit so richtig angenehm gemacht – und das ist heute alles im Eimer“.

„Kennst du das alles noch?“ fragt er auf dem Weg in die Mettage. Es sind die letzten Wochen der Blei-Zeit bei der Rundschau. An den hohen metallbeschlagenen Tischen stehen in ihren grauen Kitteln die Metteure, auf der anderen Seite die Redakteure. Dazwischen die Seiten, die gerade umbrochen werden. Wenn ein Redakteur ein ganzes Schiff mit einem Artikel heranschleppt, machen sich die Mühen des Recherchierens, Telephonierens, Diskutierens, Lesens und Schreibens im Gewicht bemerkbar. Der Metteur ordnet mit geschickten, knubbeligen Fingern die langen Bleireihen zu ein-, zwei-, drei- und vierspaltigen Artikeln, dazwischen die Linien, mit eigener Hand werden die Überschriften gesetzt: ein kleines Kunstwerk in Spiegelschrift. Hier müssen noch drei Zeilen gekürzt werden, da läuft der Absatz nicht richtig, ein „Hurenkind“ muß weggemacht werden, dort wird etwas Luft gemacht, weil ein Artikel nicht lang genug ist – Ahle und Pinzette des Metteurs stochern in der Bleilandschaft herum, der Stift des Redakteurs huscht über den Fahnenabzug. Einen gab es, der konnte am Umbruchtisch aus dem Stand dazuschreiben – zwei oder zwanzig Zeilen, bitte sehr. Ein Graukittel läuft zum Kühlschrank, eine Runde gefällig, weil ein Redakteur die Anschläge für die Überschrift falsch ausgerechnet oder anderen Mist gemacht hat. Gelacht wird viel, und wenig gestritten, die Redakteure haben Respekt vor ihrem Metteur.

Befehle vom Bildschirm

In Zukunft werden Befehle über den Bildschirm erteilt, dann erkennt man sich vielleicht gar nicht mehr in der Kneipe unten im Haus, weil die Kommunikation über das System läuft. „Der Partner ist jetzt die Maschine“, sagt Günter Lehmann, „der Spaß ist raus, der Witz ist weg.“

Früher konnte jeder Volontär durch die Mettage stromern und sich mal schnell einen Abzug von einem bereits gesetzten Artikel machen lassen, der ihn interessierte. Demnächst erfahren die Redakteure aus dem System nur noch mit einer Zugangsberechtigung etwas, müssen sie sich mit ihrem Namen oder einem Codewort gegenüber dem Computer legitimieren – „damit die Wirtschaftsredakteure nicht im Sportressort herumpfuschen“. Abschottung der einzelnen Ressorts voneinander, nicht „Wissen ist Macht“, sondern „Zugangsberechtigung ist Macht“. „Es gibt natürlich auch viele Redakteure“, sagt Günter Lehmann, „die so was anstreben.“

Den einstigen Volontär fragt er: „Kennst du noch die Bleiläuse?“ Es war ein grauer Wintermorgen vor fast zehn Jahren. Man möge doch morgen mal um acht zur Arbeit erscheinen, forderten die Kollegen aus der Technik, nicht erst um zehn, wenn die faulen Herren Redakteure verschlafen zum Dienst anzutreten beliebten – dann könne man sie sehen, die Bleiläuse. Die ganze Frühschicht wartete. Mit langen Bleistücken war ein großes Viereck auf den Tisch gebaut, in das sie Wasser gefüllt hatten: „Ei, siehste se nett, die Bleiläuse, ei is der dann blind, ei, nu guck doch mal rischtisch rei, geh doch mit dem Gesicht mal rischtisch ran, so siehste se doch nie, gleisch sinn se wieder wesch.“ Der Volontär rückt verschüchtert das Gesicht näher und, platsch, haut einer in das Wasser. Das war die Taufe, nun gehörte der Volontär dazu und durfte auch mal die Überschriften falsch ausrechnen, ohne gleich eine Runde spendieren zu müssen.

Das Blei von Günter Lehmann wird jetzt wohl verschrottet, auch die kleinsten Druckbetriebe steigen langsam auf den Photosatz um. Statt Setzer wird man „Druckformen-Hersteller“. Die Bleiläuse sind ausgerottet.

Quelle: Die Zeit am, 29. März 1985

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